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SITZGRUPPE
2015/2016
Zementmörtel, Stahl, Gips
TEXT von Thomas Pöhler
Die Moniereisen, das Skelett des Betons, ragen aus den Stümpfen der Sitzenden wie die federnden Prothesen eines
beinamputierten Sportlers. Wie in einer zu weiten Hose und in Gestalt einer großen geschlossenen Muschel steckt ein Rumpf
in der Hüfte. Dieser Oberkörper aus zwei Abgüssen eines Rückens wendet sich von uns ab – von vorn wie von hinten. Oder
zwei Menschen haben sich so sehr ineinander gepresst, dass sie zu einer einzelnen Gestalt verschmelzen. Zu einer solch
eigenständigen Form amalgamiert, könnte sie niemand mehr voneinander lösen, ihnen ihre Arme, Brüste, Bäuche und damit
ihre Unabhängigkeit zurückgeben. Es ist eine siamesische Zwillingsgestalt, die im Panzer ihr Inneres vor der Welt verkapselt
hat.
Anne Wissmanns Atelier hat seit einiger Zeit die Anmutung eines Prothesenlabors oder auch einer Ritterschmiede für
Rüstungen. Die Künstlerin hatte mit Gips viele Körperteile abgeformt, und über Monate diese Gipsfragmente von Bauch mit
Brust und Schulter, von Beinen und Rücken immer wieder neu miteinander kombiniert. Aus diesem Baukasten wuchsen
Anatomien, die Fragen stellen. Wann beginnen wir in zusammengesetzten Gliedmaßen einen Menschen zu erkennen? Die aus
dem unvollständigen Bein ragende Eisenstange – ist sie Teil der menschlichen Gestalt?
Diese Untersuchungen haben nun eine dauerhafte Form gefunden. Drei der zusammengefügten Wesen wurden in Beton
gegossen und bilden die „Sitzgruppe“. Alle haben Beine und Rücken, keine verfügt über Arme und Kopf, nur eine
Gesichtsmaske taucht in einer Figur auf. Man kann diesen beinahe menschlichen Körpern eine schicksalhafte Passivität, eine
Unfähigkeit zur Teilnahme ablesen. Verorten wir doch im Kopf vier von fünf Sinnen, sowie das Denken und Reflektieren. Die
Arme kennen wir als Werkzeuge unseres Tastens und Schaffens. Gesetzt den Fall der kopf- und armlose Körper wäre
lebensfähig – was nimmt dann so ein Wesen von der Welt wahr, und was geht in ihm vor? Für Anne Wissmann ist der Torso
über das klassische Bildhauermotiv hinaus zu verstehen. 
 
Überraschungen werden geboten, umwandelt man die Skulpturen. Von vorn erscheint die „Sitzende 1“ ruhend und in den
Liegestuhl versunken. Von der Seite betrachtet erkennt man in der Silhouette ein Möbelstück, den Bauhausklassiker Chair b33
von Marcel Breuer. Beine und Oberkörper bilden einen Freischwinger. Dazu muss der Mensch verlängert werden und wird in
ein zweites Paar Beine gesteckt. Der Fuß des Stuhls endet in offen nach oben gerichteten Fußsohlen, nackt und verletzlich,
b.w.